05.04.2017

Dokumentation der Veranstaltung Afghanistan – (k)ein sicheres Land!

Dokumentation der Veranstaltung
Afghanistan – (k)ein sicheres Land!

Das Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Asyl in der Kirche Berlin e.V. haben am 29.03.2017 um 19 Uhr zu einem Informationsabend über die Situation in Afghanistan geladen.

Auf dem Podium waren vertreten:
Herr Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysis Network und regelmäßiger Autor bei der taz, der sich seit Ende der 1980er Jahre regelmäßig in Afghanistan aufhält.
Frau Katharina Müller, vom Flüchtlingsrat Berlin.
Herr Kava Spartak vom Verein YAAR, der als afghanisches Kultur- und Beratungszentrum in Berlin den direkten Kontakt mit geflüchteten Afghanen hat.
Herr Bernhard Fricke, Mitglied im Vorstand von Asyl in der Kirche Berlin e.V. und Flüchtlingspfarrer im Kirchenkreis Potsdam führte als Moderator durch den Abend.

Die Veranstaltung war mit rund 80 Interessierten gut besucht. Aus ganz Berlin und Brandenburg waren Interessierte angereist. Auch junge Afghanen befanden sich unter den ZuhörerInnen der Podiumsdiskussion.

Infoabend AfghanistanInfoabend Afghanistan
Fotos: Uwe Kraeusel

 

Thomas Ruttig berichtete zunächst über die Lage in Afghanistan:
Das Afghanistan Analysis Network ist ein europaweites Netzwerk. Es werden Analysen veröffentlicht, die kostenlos im Internet zugänglich sind. Es ist bekannt, dass auch Personen aus Politik und Diplomatie das Netzwerk als Informationsquelle nutzen.

 Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland – und wird von der Bundesregierung auch nicht so eingestuft. Allerdings werden sicherere Gebiete deklariert. Dabei wird weder darauf eingegangen, was genau man unter „Gebiet“ versteht, noch wird auf die aktuelle Sicherheitslage geschaut, sondern die Verbesserung der Sicherheitslage zwischen 2015 und 2016 als Grundlage genommen.

UNHCR wurde explizit von der Bundesregierung aufgefordert, die Sicherheitslage im Land zu bewerten. Das Ergebnis war, dass UNHCR die Einschätzung der Regierung, man könne in sichere und unsichere Gebiete unterteilen, nicht teilte. Die Lage im Land verändert sich dafür zu schnell. Es bleibt unklar, woher die Fakten für die Einschätzung der Bundesregierung kommen. Deutlich wird, dass auf die Wortwahl in offiziellen Dokumenten geachtet werden muss: Es gebe Provinzen, die seien sicherer als andere.

Seitdem die Internationale Sicherheitsunterstützungsgruppe (ISAF) die Verantwortung für die Sicherheit im Land, der afghanischen Regierung in 2014 übertragen hat, gibt es von dieser Seite keine aktuellen Berichte mehr. Die afghanische Regierung gibt zwar Zahlen heraus, diese werden aber nur sporadisch veröffentlicht und sind nicht belastbar.
Der Sondergeneralinspektor der USA (Sigar), veröffentlicht alle viertel Jahre Berichte zur Lage in Afghanistan. Er hat der Bundesregierung bereits im November 2016 widersprochen, dass sich in 2015 und 2016 die Lage im Land verbessert habe. Die Taliban seien stärker geworden, der Krieg im Land ist ein Guerillakrieg, der keine festen Formen habe und den man schlecht einschätzen könne.

Von den 400 Distrikten in Afghanistan, werden nur noch 100 Distrikte von deren Gouverneuren besetzt und diese schützen teilweise nur noch ihren eigenen Grundstücke. Die anderen Distrikte werden von den Taliban regiert. Sicherere Gebiete im Land gibt es nicht. Bereits in diesem Jahr gab es in 34 Gebieten im Land wieder Kämpfe, die wiederum 40.000 Binnenflüchtlinge hervorgebracht haben. Zusätzlich zu den bereits 1,2 Millionen aus 2016. Die Kämpfe dehnen sich weiterhin aus und verhärten und verstärken sich.

Die Zahl der zivilen Opfer zählt seit 2009 eine UN-Mission. Die Zahlen zeigen, dass diese sich stets erhöht haben. Besonders dramatisch ist die gestiegene Zahl der getöteten Kinder. Auch daran lässt sich erkennen, dass sich die Lage im Land nicht verbessert hat. Das Europäische Asyl Unterstützungsbüro (EASO) hat bisher Herkunftsländerberichte veröffentlicht, die auch die Opfer von Luftanschlägen, Säuberungsaktionen, Bomben, Morden etc. aufgelistet hat.

Zur Einschätzung der Lage muss man sich auch den Gesamtverlauf des Krieges ansehen, der seit Mitte der 70er Jahre tobt. Über Perioden werden die Menschen immer wieder gezwungen, auf den Krieg zu reagieren. Immer wieder gibt es Fluchtbewegungen – seit über 40 Jahren. Der Krieg konnte auch durch internationale Interventionen nicht beendet werden. Hoffnungen der Menschen werden immer wieder zerschlagen. Auch von denen, die ins Land zurückgekehrt sind (sei es aus den Nachbarländern oder aus Europa), mussten viele irgendwann wieder fliehen, haben den Verlust von Familienmitgliedern und Zerstörung ihrer Heimat erleben müssen.

Die Gründe für Flucht sind dieselben wie damals: Der Abzug der westlichen Truppen hat nicht nur die Sicherheitslage wieder verschärft. Viele Arbeitsplätze sind weggefallen, das Transportgewerbe ist zusammengebrochen, die Wirtschaft geschrumpft. Die Beziehungen zwischen Iran, Pakistan und Afghanistan sind äußert angespannt. Pakistan hat Geflüchtete schon oft als Druckmittel genutzt. Es gibt dort mehrere Millionen registrierte Flüchtlinge. Im letzten Jahr wurden nicht-registrierte Menschen ausgewiesen und so kamen 1,2 Millionen Afghanen aus dem Iran und Pakistan zurück. Hinzu kommen noch ca. 80.000 ausreisepflichtige Afghanen aus der EU – die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, diese Menschen zu versorgen, Arbeitsplätze zu schaffen und für die Sicherheit zu garantieren.

Beim 3. Abschiebeflug aus Deutschland nach Kabul war es möglich, mit 4 von 18 Personen in Kontakt zu treten. Die Menschen waren für zwei Wochen in einer Zwischenunterkunft in Kabul untergebracht worden. Die vier Personen hatten noch Kontakt nach Deutschland, was sich aber wegen fehlender afghanischer Telefone als schwierig erwies. Es handelte sich um Personen, die zwischen 3 und 6 Jahren in Deutschland gewesen waren und mit der Situation völlig überfordert waren. Sie trauten sich nicht auf die Straße und waren völlig verängstigt. Der Kontakt zu den Personen brach nach den zwei Wochen jedoch ab – denn nach dieser Zeit müssen sie die Unterkunft verlassen.

Kava Spartak berichtet über die Menschen, die den Verein YAAR aufsuchen:
YAAR wurde vor 5 Jahren gegründet mit dem Ziel, Deutschunterricht, Beratung und Begleitung anzubieten. Mittlerweile bekommt der Verein Fördermittel vom Bezirk Mitte.

Die Menschen, die seit 2015 nach Deutschland kamen, wurden vom ersten Tag an von allen Programmen in Deutschland ausgeschlossen: Es gab keinen Zugang zu Sprach- oder Integrationskursen. Die Kategorisierung beruhte auf der Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: Menschen aus Ländern, die im Vorjahr eine hohe Anerkennungsquote ihrer Asylanträge hatten, (Quote 2013/2014 unter 50%), wurden von Programmen ausgeschlossen.

Seit 3 Generationen erfahren die Afghanen Krieg. Das Gefühl bleibt: Auf unsere Kosten wurde und wird Weltpolitik gemacht.
Das Resultat ist Binnenflucht oder die Flucht bis nach Europa. Es scheint nirgendwo ein Willkommen zu geben.

Seitdem die Bundesregierungen Gebiete innerhalb Afghanistans zu sicheren Zonen erklärt hat, gibt es viele Menschen, die eine Asylablehnung erhalten. Das Abkommen zwischen der EU und der afghanischen Regierung hat die Situation zudem verschärft. Hinzu kommt die medial aufgemachte Inszenierung von Abschiebungen nach Afghanistan. Dies alles schürt bei Betroffenen Ängste. Dies hat immense Auswirkungen auf Erziehung und Bildung: Familien berichten, dass die Situation innerhalb der Familie angespannter ist. Kinder werden auf dem Schulhof gehänselt, „sie würden ja eh nicht lange hierbleiben“. Die Hoffnungslosigkeit bleibt: „Wo sollen wir jetzt noch hin? In Iran und Pakistan werden wir behandelt wie Menschen zweiter Klasse. In Europa hatten wir auf Menschenrechte und Werte gehofft, nun droht uns die Abschiebung“.
Und es zeigt sich, dass es nicht nur um Menschen geht, die erst seit kurzem hier sind: Auch Afghanen, die seit Jahren in Deutschland leben, die Sprache sprechen, kurz vor der Heirat stehen, Arbeit oder Ausbildung haben sind von Abschiebung betroffen.

Der Auftrag des Vereins YAAR ist es, Menschen durch Sprachförderung und Demokratiebildung in die Gesellschaft zu integrieren. Die aktuelle Lage macht es jedoch schwierig, die Menschen für solche Themen zu gewinnen.
Berlin ist eines der wenigen Bundesländer, die seit Sommer 2016 ein eigenes Programm haben, damit Afghanen an Deutschkursen an der VHS teilnehmen können.

Mit den Sammelabschiebeflügen nach Afghanistan schickt man Menschen direkt in den Krieg. Die sogenannten sichereren Gebiete in Afghanistan sind nur für die Menschen sicher, die seit Generationen dort leben, sich in den Region auskennen, Kontakt zu Gruppen haben, die die Sicherheit garantieren können. Es gibt zu viele einzelne Bevölkerungsgruppen, die man nicht einfach in bestimmte Provinzen schicken kann. Zudem werden die meisten Provinzen durch die Taliban oder ISIS kontrolliert.

Katharina Müller berichtet über die politische Situation in Berlin:
250.000 afghanische Staatsangehörige leben derzeit in Deutschland. Im laufenden Asylverfahren befindet sich etwa die Hälfte. 2500 Menschen sind ausreisepflichtig. In Berlin leben 11.000 afghanische Staatsangehörige, von denen 200 ausreisepflichtig sind. Die Anerkennungsquote lag Ende 2015 bei 78%. Ende 2016 nur noch bei 56%  – trotz der dargestellten schlechten Sicherheitslage im Land.

Die Bescheide des BAMF sind meist sehr schlecht: Satzbaukonstruktionen passen nicht zusammen. Es gibt keine neuen Quellen, auf die sich die Entscheidungen zurückverfolgen lassen. Die Aussagen in den Bescheiden widersprechen sich zum Teil. Zudem ist die Qualität der Anhörungen sehr schlecht. Mitunter unterscheidet sich die Person die die Anhörung macht von der, die am Ende die Entscheidung trifft.

Es gibt die politische Vorgabe, dass es mehr Abschiebungen geben soll, daraus resultiert die gesunkene Anerkennungsquote.

Ab einer Anerkennungsquote von 50% ist normalerweise der Zugang zu Programmen und Kursen im laufenden Asylverfahren möglich. Alleine deshalb müssen Integrationskurse für Afghanen geöffnet werden.
Die Panikmache wirkt: Die Zahl der freiwilligen Rückkehrer steigt und belief sich im Jahr 2016 auf 2500. 92 Menschen wurden bisher in vier Flügen abgeschoben. Allerdings befanden sich darin nicht nur Straftäter, wie von Seiten der Politik vordergründig behauptet, sondern auch Menschen, die abgeschoben wurden, obwohl sie in Arbeit oder Ausbildung waren und seit Jahren hier gelebt hatten.

In Berlin gibt es derzeit keinen offiziellen Abschiebestopp, aber die mündliche und schriftliche Äußerung des Innensenators, aus Berlin werde nicht abgeschoben – abgesehen von Straftätern, die erhebliche Straftaten begangen haben. Auch die Grünen und Linken haben geäußert, dass sie keine Abschiebungen mittragen werden.
In Brandenburg gab es ähnliche Verlautbarungen – nun gab es von dort jedoch eine Abschiebung.

Es braucht einen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan und weiterhin Druck auf die Landesregierungen, Abschiebestopps auszusprechen und diese Forderung auf die Bundesebene zu tragen. Es braucht andere Lösungen, um Bleibeperspektiven aufzutun und den Menschen einen Anfang in Deutschland zu ermöglichen.

Schleswig-Holstein hat einen dreimonatigen Abschiebestopp verhängt und gleichzeitig das Auswärtige Amt aufgefordert, die Sicherheitslage in Afghanistan neu zu bewerten. Es braucht auch Unterstützung der Landesregierung in Schleswig-Holstein, damit diese ihren Kurs weiter aufrechterhalten kann.

Es bedarf einer Neubewertung der Sicherheitslage im Land, auf Grund der tatsächlichen Gefährungs- und Verfolgungslage. Nur so können die katastrophalen Entscheidungen des BAMF verhindert werden. Auch die Berliner Ausländerbehörde muss sich die 200 ausweispflichtigen Fälle anschauen und im Einzelfall prüfen ob es hier nicht andere Möglichkeiten einer Bleibeperspektive gibt. Ermessenspielräume müssen großzügig genutzt werden.

Ein weiteres großes Problem sind die indirekten Abschiebungen nach Afghanistan über andere Mitgliedstaaten der EU. So häufen sich z.B. Fälle von Abschiebungen nach Norwegen, das weiter nach Afghanistan abschiebt. Auch hier bedarf es dringend einer Einzelfallprüfung und einer Aussetzung der Dublin-Verordnung.

Zusammenfassung der Diskussion im Anschluss:
Eine Frau aus dem Publikum berichtet, dass es in den Ablehnungsbescheiden des BAMF irrwitzige Begründungen für eine Abschiebung gebe: So werde argumentiert, es gebe ja nur 0,02% Gefahr, dass man bei einer Rückkehr umgebracht würde. Zudem sei Binnenmigration auch eine Option. Nicht zuletzt könne man die Polizei um Hilfe bitten (und wenn nicht im eigenen Ort, dann im nächsten).

Es gibt genügend Berichte, dass es strukturelle Gewalt bei der Polizei gibt, ebenso wie Korruption. Es wurde bekannt, dass Offiziere private Gefängnisse haben, in denen Menschen eingesperrt und gefoltert werden, um von den Verwandten Geld zu erpressen.

Es gibt einen gemeinsamen Brief des Innenministeriums und des Auswärtigen Amtes an die Landesinnenminister: In diesem Brief wird erläutert, dass Pakistan und Iran massenhaft Afghanen wieder nach Afghanistan abschieben. Dies wäre doch ein gutes Zeichen – die Nachbarländer wüssten besser als Deutschland, dass man Menschen zurückschieben könnte. Es gib jedoch einen Bericht der UN, dass der größte Teil dieser Menschen unter Zwang abgeschoben wird. Human Rights Watch berichtet zudem von erheblichen Einschüchterungskampagnen der pakistanischen Polizei.

Es gibt seit langem die Forderung, dass Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland und vor ihrer Anhörung beim Bundesamt, Zeit haben, sich auf die Befragung vorzubereiten. Es braucht hierfür Unterstützung.

Auf asyl.net gibt es eine Rechtsprechungsdatenbank sowie Informationen über die Anhörung (auch auf Farsi) sowie Links für UnterstützerInnen, die in der Arbeit tätig sind. Zudem erstellt der Flüchtlingsrat Niedersachen monatlich eine Erkenntnisliste.

 

 

Für weitere Informationen:

Afghanistan Analysts Network

https://www.afghanistan-analysts.org/ 

YAAR

http://www.yaarberlin.de/de/home/

Flüchtlingsrat Berlin

http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/

Berliner Bündnis gegen Abschiebungen nach Afghanistan

https://de-de.facebook.com/Berliner-B%C3%BCndnis-gegen-Abschiebungen-nach-Afghanistan-1238755006209666/

Asyl in der Kirche Berlin e.V.

http://kirchenasyl-berlin.de/

Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung

http://www.bildungswerk-boell.de/de

Pro Asyl

https://www.proasyl.de/

SIGAR

https://www.sigar.mil/

EASO Länderbericht Afghanistan 2016

https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwiBybrUgojTAhUFyRQKHVQABOgQFggfMAA&url=https%3A%2F%2Fwww.easo.europa.eu%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2Fpublic%2FEASO-COI-Afghanistan_Security_Situation-BZ0416001ENN_FV1.pdf&usg=AFQjCNEP37rLwbVIz4yiQSa2yoa1acEBTg

UN-Mission

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