Rückblick Jubiläumstagung „40 Jahre Kirchenasyl – Ultima Ratio und widerständige Praxis“ – Wir kämpfen mit geflüchteten Menschen für gerechten Zugang zu Sicherheit und Schutz.
Kirchenasyl ist mitunter die Ultima Ratio, wenn Abschiebungen drohen: eine letzte Möglichkeit, Menschenrechtsverletzungen abzuwenden, nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Kirchenasyl ist aber auch Kritik, Korrektiv, widerständige Praxis, ziviler Ungehorsam – die Aufforderung an den Staat, eine ablehnende Asylentscheidung zu revidieren. Vor allem ist es eine Gewissensentscheidung von Christ*innen, Menschen in Not zu helfen und ihnen einen Schutzraum zu gewähren.
Am 30. und 31. August 2023 haben wir in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche gemeinsam die letzten 40 Jahre Revue passieren lassen – so lange ist die Kirchenasylbewegung in Deutschland aktiv.
Die Wurzeln der Kirchenasylbewegung in Deutschland
Mit einer Kranzniederlegung am Gedenkstein Cemal Kemal Altuns in der Hardenbergstraße haben wir Cemal Kemal Altun gedacht. In seinem tragischen Tod nahm die Kirchenasylbewegung in Deutschland ihren Anfang. Altun stürzte sich aus Angst, an die türkische Militärjunta ausgeliefert zu werden, aus dem 5. Stock des Berliner Verwaltungsgerichts – ein zündender Moment für zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete und insbesondere für die Kirchenasylbewegung in Deutschland. Pfarrer Jürgen Quandt, dessen Gemeinde sich für Altun eingesetzt hatte und der unter dem Eindruck von Altuns Tod nicht zögerte, als ihn eine palästinensische Familie um Schutz in der Heilig-Kreuz-Kirche bat, führte somit 1983 das erste moderne Kirchenasyl durch. Erinnern heißt kämpfen, weiß Pfarrer Quandt:
„So wie Cemal Altun an der Hartleibigkeit und Hartherzigkeit eines deutschen Asylsystems zugrunde ging, so geschieht es heute vielhundert- und –tausendfach. […] Wenn wir uns an Cemal Altun erinnern, dann tun wir das auch mit dem Versprechen, nicht aufzuhören, für das Recht auf Leben derer einzutreten, die zu uns kommen, weil sie hier Schutz vor Verfolgung, vor Gewalt und vor lebensbedrohlicher Not suchen.“
Pfarrer Jörg Passoth, Mitbegründer von Asyl in der Kirche, nannte einen weiteren Moment des Entsetzens in den frühen 1980er Jahren, der für ihn richtungsweisend war. Geflüchtete in Abschiebegewahrsam am Augusta Platz in Berlin hatten ihre Matratzen angezündet, um ihrer drohenden Abschiebung zu entgehen. Die Polizist*innen vor Ort hatten es unterlassen, die Zelltüren zu öffnen, sodass sechs Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Die tiefe Trauer, Not und Verzweiflung vieler Geflüchteter sind aus der Geschichte der Kirchenasylbewegung nicht wegzudenken. Das Kirchenasyl bleibt aber eine Chance, Raum und Gehör für diese Not zu finden. Dafür bittet Pfarrer Passoth:
„Wahrnehmen – was da geschieht, mit aller Intensität und Klarheit – und handeln. […] Die Not sehen, das Geschrei hören, das Leiden erkennen – und handeln. […] Wahrnehmen und handeln sind ein Vorgang, gehören zusammen wie Einatmen und Ausatmen.“
Kirchenasyl in Deutschland heute
Neben der Besinnung auf die Wurzeln der Kirchenasylbewegung war der erste Konferenztag geprägt von Diskussionen zu Asylrecht und –praxis heute, sowie zu deren Beziehung zum Kirchenasyl. In Podiumsdiskussionen und Workshops wurde unter anderem der strukturelle Rassismus und die strukturelle Gewalt, welche Menschen im Asylverfahren zuteilwerden, beklagt. Josephine Furian, Pfarrerin für Flüchtlingsarbeit und Seelsorgerin in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt, betonte darum die Verantwortung der Bewegung, sich zwar für Einzelschicksale einzusetzen aber den größeren politischen Kontext nicht aus dem Blick zu verlieren und der Politik gegenüber klar Stellung zu beziehen. Neokoloniale Systeme der Ausbeutung und Kontrolle müssen benannt und bekämpft werden, so auch die Abschottung der EU. Das Engagement der Kirchenasylbewegung stütze die Grundfesten eines demokratischen und auf Menschenrechten beruhenden Europas, so Oliver Schmidt, der Projektleiter Migration und Europa an der Evangelischen Akademie in seinem Grußwort.
Ein Festgottesdienst mit dem Evangelischen Bischof der EKBO Christian Stäblein und dem Katholischen Dompropst Tobias Przytarski schloss den ersten Konferenztag ab. Bischof Stäblein, der auch Flüchtlingsbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland ist, erklärte in seiner Predigt:
„[D]as mit dem Schutz der Suchenden, Fliehenden, Asyl-Benötigenden [ist] gar kein strittiger Dialog in der Bibel, es ist vielmehr schlicht ein Gebot.“
Er setzte sich für den Erhalt des Rechts auf Asyl als Individualrecht ein, es könne unmöglich durch ein Kontingentrecht ersetzt werden. Teile der Politik hatten diese Verwässerung des Asylrechts vor Kurzem angedacht und auch der sogenannte Asylkompromiss GEAS auf europäischer Ebene würde vielen Menschen den Zugang zu einer individuellen Prüfung ihres Asylgesuchs erschweren. Zusätzlich zum Schutz von Einzelnen sei das Kirchenasyl aber auch ein Dienst an der Kirche – denn eine Kirche, die aufhört für Menschen in Not da zu sein, verliert den Geist Gottes und hört auf, Kirche zu sein, so Bischof Stäblein.
Die Internationale Sanctuary Bewegung
Seit der Zeit der ersten Kirchenasyle in Deutschland Anfang der 1980er Jahre ist die deutsche Kirchenasylbewegung mit dem US-amerikanischen Sanctuary Movement und einem internationalen Netzwerk Gleichgesinnter verbunden. In diesem Zusammenhang entstand 2016 die International Sanctuary Declaration, in der Kirchenasyl-Bewegungen aus Europa und den USA die Prinzipien ihres Engagements formuliert haben. Am zweiten Konferenztag haben wir diese Erklärung gemeinsam mit Gästen aus Canada, Mexico, USA, Griechenland, Groß-Britannien, u.a. reflektiert. Außerdem haben wir uns zu Parallelen in unserer Arbeit aber auch in den respektiven Grenzregimen, mit denen sich unsere Arbeit konfrontiert sieht, ausgetauscht. Hoch die internationale Solidarität!
Interview-Sammlung: Launch des Videoportals und Vernissage der Ausstellung
In einem gemeinsamen Projekt des Vereins Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg e.V., dem Institut für Philosophie und der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin wurden biografisch-narrative Interviews mit zentralen Akteur*innen der Kirchenasyl-Bewegung geführt und öffentlich zugänglich gemacht. Es wurden die Erfahrungen von Menschen gesammelt, die die Idee des Kirchenasyls seit 1983 mit Leben gefüllt haben: engagierte Aktive in Initiativen, Gemeinden und Kirchenleitung ebenso wie Geflüchtete, die sich für das Kirchenasyl entschieden haben, da ihnen sonst die Abschiebung gedroht hätte. Sie berichten von Flucht und Schutz, von Menschenrechtsverletzungen und Solidarität. Im Oral History Portal der Universitätsbibiliothek der Freien Universität, wo die Interviews, Transkripte, sowie Begleitmaterial veröffentlicht sind, wurde das Projekt zur Tagung freigeschaltet. Eine Wanderausstellung, die Akteur*innen der Bewegung portraitiert, wurde auf der Tagung erstmalig gezeigt und kann nun kostenlos ausgeliehen werden: info@kirchenasyl-bb.de
Dank
Wir denken gerne zurück an dieses inspirierende Zusammenkommen. Sehr diverse Perspektiven wurden aufgeworfen und Praxis- so wie Denkansätze angestoßen. Danke an alle Teilnehmenden und Organisator*innen!
Die Tagung richteten wir in Kooperation mit der Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. und der Evangelischen Akademie zu Berlin aus. In Kürze erscheint eine ausführlichere Dokumentation der Tagung, inklusive der gesammelten Redebeiträge, bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. Lesen Sie schon jetzt die Reflexionen zur Tagung der Evangelischen Akademie.
Spannende Beiträge zum Jahrestag der Bewegung finden Sie zum Beispiel beim Deutschlandfunk, Domradio, und dem rbb. Über Cemal Kemal Altuns Geschichte können Sie zum Beispiel beim Tagesspiegel oder PRO ASYL mehr erfahren.
Klicken Sie sich bei Interesse auch gerne durch die Presseschau, in der alle uns bekannten journalistischen Beiträge zu unserem Jubiläum zusammengetragen wurden.
Fotos von Peter Groth.