04.05.2021 - 04.05.2021

Afghanistan Abschiebung verschoben: Jetzt politische Konsequenzen ziehen!


Gemeinsame Pressemitteilung der Landesflüchtlingsräte und PRO ASYL vom 4.5.2021


Der für heute geplante bundesweite Sammelabschiebe-Charter nach Afghanistan wurde
wegen Sicherheitsbedenken verschoben. Dies bestätigt die Kritik von PRO ASYL und den
Landesflüchtlingsräten an den Abschiebungen nach Afghanistan, das laut Global Peace Index
das unsicherste Land der Welt ist. Afghanistan befindet sich sicherheitstechnisch im freien
Fall. Die prekäre Sicherheitslage hat sich durch den am 1. Mai begonnenen Abzug der NATOTruppen weiter verschärft. Wie das Machtvakuum gefüllt wird, ist ungewiss. Eine Zunahme
der Angriffe durch die Taliban und Versuche zur Machtübernahme sind zu erwarten. Darüber
hinaus hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan auf Grund der Covid-19-Pandemie
extrem verschlechtert, sodass Abgeschobenen ohne familiäres oder soziales Netzwerk die
Verelendung droht. Trotzdem bleibe der Grundsatz des Innenministeriums zu
Abschiebungen nach Afghanistan weiter unverändert, wie dpa berichtet. Dass der für
Dienstag geplante Abschiebeflug nicht vollständig abgesagt, sondern lediglich verschoben
wurde, ist vollkommen unangemessen.
PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern:
1.) Die Bundesregierung und die Bundesländer müssen einen sofortigen und
ausnahmslosen Abschiebestopp nach Afghanistan erlassen. Aus der prekären und
völlig ungewissen Sicherheitslage sowie angesichts der desaströsen wirtschaftlichen
Situation, die sich ebenfalls mit dem Truppenabzug weiter verschärfen wird, muss
ein bundesweites Abschiebeverbot nach Afghanistan folgen, welches es bei der
nächsten Innenministerkonferenz zu beschließen gilt. Bereits jetzt können und
müssen die Bundesländer auch in eigener Verantwortung die Abschiebungen nach
§ 60 a) Abs. 1 AufenthG für sechs Monate ausnahmslos aussetzen.
Geflüchtete sind nach der Abschiebung aus Deutschland häufig auch in Afghanistan
stigmatisiert. Viele Gerichte, darunter auch der Verwaltungsgerichtshof in BadenWürttemberg, haben festgestellt, dass ihnen eine Rückkehr ohne ein stabiles
familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan nicht zuzumuten ist.
2.) Das Auswärtige Amt muss die Lage und Verfolgungssituation umgehend neu
bewerten, da die Lageberichte Grundlage für Asylentscheidungen des Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind. Bisher werden Asylanträge abgelehnt mit
der Begründung, es gebe innerhalb des Landes sichere Gebiete, sogenannte
innerstaatliche Fluchtalternativen. Doch nach dem Truppenabzug der NATO können
auch Städte wie Kabul nicht länger als sicher gelten. Wie aus einem Spiegel-Artikel
vom 29.04.2021 hervorgeht, schließen Außen- und Verteidigungsministerium selbst
einen „Sturm auf Kabul“ durch aufständische Gruppen nicht mehr aus. 3.) Mit dem Truppenabzug muss allen afghanischen Ortskräften – Dolmetscher:innen,
Fahrer:innen und sonstigen Mitarbeitenden der Bundeswehr, der Bundespolizei
und anderer Organisationen – mit ihren Familienangehörigen schnell und
unbürokratisch die Aufnahme im Bundesgebiet angeboten werden. Sie müssen
eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhalten. Diese Menschen jetzt
zurückzulassen, wäre für sie und ihre Familien lebensgefährlich.
4.) Die Bundesregierung muss jetzt den Familiennachzug aus Afghanistan zu ihren in
Deutschland lebenden Angehörigen mit allen Mitteln beschleunigen und
unterstützen. Hierzu muss ebenso wie für Ortskräfte ein schnelles, unbürokratisches
Verfahren installiert werden. Für diese ist die Eröffnung zweier Büros in Kabul und
Masar-e Sharif geplant, von wo aus die Aufnahme organisiert werden soll. Da die
Visaabteilung der Botschaft in Kabul infolge eines Anschlags weiterhin geschlossen
ist, müssen diese Büros auch für den Familiennachzug genutzt werden. Eine
kurzfristige Aufstockung des Personals an den Botschaften in Islamabad oder NeuDelhi – die derzeit für Visaanträge afghanischer Staatsangehöriger zuständig sind –
ist notwendig. Angesichts der Zeitknappheit und der Gefahren, die den
Antragstellenden bei der Reise dorthin drohen, reicht das jedoch nicht aus. Es kann
schutzsuchenden Afghanen nicht zugemutet werden, monatelang in Neu-Delhi oder
Islamabad auf Termine zur Visumsvergabe zu warten.
5.) Das BAMF muss seine Widerrufspraxis ändern. In jüngerer Zeit widerruft das BAMF
in zahlreichen Fällen, in welchen noch vor wenigen Jahren jungen unbegleiteten
Minderjährigen die Flüchtlingseigenschaft wegen (drohender) Zwangsrekrutierung
durch die Taliban zugesprochen worden war, kurz nach Erreichen der Volljährigkeit
den Flüchtlingsstatus. Das darf nicht länger gängige Praxis sein. Auch
Abschiebungsverbote werden mit Erreichen der Volljährigkeit widerrufen, da das
Bundesamt davon ausgeht, dass es jungen Männern möglich ist, ein Leben am Rande
des Existenzminimums auch ohne familiäres oder soziales Netzwerk zu führen. Dies
ist indessen – wie jüngst im oben genannten Urteil des VGH Baden-Württemberg
deutlich aufgezeigt wurde – nicht der Fall. Widerrufe des BAMF müssen folglich
unterbleiben.
6.) Ein gesichertes Bleiberecht muss es auch für jene Afghanen geben, die nur mit
einer Duldung in Deutschland leben oder sich seit Jahren im Asylverfahren
befinden. Kein Afghane, keine Afghanin in Deutschland darf in der jetzigen Lage
zurückgeschickt werden – egal, ob sie erst vor wenigen Monaten angekommen sind
oder seit Jahren hier leben. Die Folgen einer Duldung sind nicht nur ein Leben in
ständiger Angst, Perspektivlosigkeit und Armut, sondern auch geringere Chancen auf
dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Bildung und in der Entwicklung
persönlicher Potenziale. Letztlich sind dies auch verpasste Chancen für die
Gesellschaft, in der diese Menschen leben. Mit Blick auf die gemeinsame
gesellschaftliche Zukunft ist es geboten, diesen Menschen jetzt eine
Lebensperspektive zu eröffnen und ihnen die in einem solchen Fall anstelle von
Kettenduldungen gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.
Pressekontakt:
Flüchtlingsrat Berlin e.V., Tel.: 030 224 76 3 – 11/ – 09, Mail: buero@fluechtlingsrat-berlin.d

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